Berlin. Noch sind die Corona-Zahlen niedrig, doch der Trend ist eindeutig – und das ist nicht die einzige Sorge von Virologen. Ein Lagebericht.

Die Pfeile, die Trends abbilden, zeigen wieder nach oben: bei der Viruslast, die im Abwasser gemessen wird, bei der Zahl der schweren Atemwegserkrankungen, bei den Einweisungen ins Krankenhaus. Bei mehreren der Indikatoren, anhand derer RKI und Gesundheitsministerium die Corona-Situation überwachen, ist die Tendenz steigend. Noch sind die Zahlen niedrig, doch das kann sich schnell ändern. Was Sie über das aktuelle Infektionsgeschehen wissen müssen und wie es weitergehen könnte – der Überblick.

Wie ist das aktuelle Corona-Infektionsgeschehen?

Verglichen mit Spitzen der Infektionszahlen aus 2022 liegen die Kurven auf einem niedrigen Niveau: Die Sieben-Tage-Inzidenz der laborbestätigten Corona-Fälle lag zuletzt bei 2,7 pro 100.000 Einwohnern, Anfang Juni waren es noch 1,0. Weil nicht mehr systematisch auf Corona getestet wird, ist die Aussagekraft dieser Zahlen zwar beschränkt. Doch derselbe Trend lässt sich auch bei anderen Indikatoren beobachten – etwa der Viruslast, die im Abwasser gemessen wird, und der Zahl der Hospitalisierungen.

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„Die Hinweise sind eindeutig“, sagt Christian Karagiannidis, Leiter des Intensivregisters der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. „Es baut sich gerade eine Corona-Sommerwelle auf.“ Er sieht dem gelassen entgegen: Schwere Fälle gebe es derzeit keine mehr, insgesamt sei die Krankheitslast bei den aktuellen Varianten und der sehr guten Immunität der Bevölkerung gering. „Wir sind deswegen relativ entspannt“, sagt der Intensivmediziner.

Getestet wird kaum noch, deshalb ist die Aussagekraft der Infektionszahlen eingeschränkt.
Getestet wird kaum noch, deshalb ist die Aussagekraft der Infektionszahlen eingeschränkt. © DPA Images | Bernd Weißbrod

Vorsichtig bleiben sollten allerdings Patienten mit Long Covid, mit einem medikamentös stark gedämpften Immunsystem oder Menschen, die mit transplantierten Organen leben, sagt er. „Risikopatienten sollten sich im Herbst eine Auffrischungsimpfung holen – genauso, wie die Stiko es empfiehlt.“

Welche Variante ist aktuell dominant?

Das Infektionsgeschehen beherrschen laut RKI noch immer Subtypen der Omikron-Variante von Corona: Knapp mehr als die Hälfte der untersuchten Proben wiesen zuletzt die Variante KP.3 auf, rund 15 Prozent KP.2. Beide gehören zur Gruppe der sogenannten FLiRT-Varianten, die sich an bestimmten Positionen im Spike-Protein von vorhergehenden Varianten unterscheiden. Der Anteil dieser beiden Varianten ist seit Anfang April schnell gestiegen.

Wie gut sind wir vorbereitet auf die nächste Pandemie?

Corona wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein, darin sind sich Expertinnen und Experten einig. Aktuell beobachten Wissenschaftler aufmerksam etwa die Entwicklung beim Vogelgrippe-Virus H5N1: Das kursiert seit Jahren und springt immer wieder von Vögeln auch auf Säugetiere über, zuletzt in den USA auf Milchkühe und von dort erneut auch auf Menschen.

Christian Drosten, Leiter des virologischen Instituts der Charité, nannte die Situation im Hinblick auf H5N1 „unübersichtlich und beunruhigend“. Es sei möglich, dass H5N1 in den Griff zu bekommen ist und man bald nicht mehr darüber rede, sagte Drosten der „Süddeutschen Zeitung“. „Ich kann mir aber auch vorstellen, dass wir bald mit H5N1 in der nächsten Pandemie hängen.“ Aber auch Grippeviren oder das Atemwegsvirus MERS sind nach Einschätzung von Fachleuten mögliche Kandidaten für eine neue Pandemie.

Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, nennt die Lage mit Blick auf H5N1 „unübersichtlich und beunruhigend“.
Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, nennt die Lage mit Blick auf H5N1 „unübersichtlich und beunruhigend“. © DPA Images | Kay Nietfeld

Und sowohl Drosten als auch Isabella Eckerle, Virologin an der Universität Genf, sehen die Gesellschaft darauf inzwischen eher schlechter als besser vorbereitet: Eckerle sagte kürzlich dem „Spiegel“, Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien hätten so stark zugenommen, „dass es in Zukunft viel schwerer werden wird, sachlich zu den Risiken eines neuen Erregers zu kommunizieren“.

Wird die Politik der Corona-Jahre aufgearbeitet werden?

Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid haben tiefe gesellschaftlichen Gräben geschlagen. Und die sind auch lange nach dem Abebben der Infektionszahlen noch da. Aus vielen Lagern gibt es deshalb Forderungen nach einer Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach sich in einem Interview mit der ARD am Sonntag dafür aus, Bürgerräte mit dem Thema zu befassen – dann seien nicht nur Experten und Abgeordnete dabei, sondern auch Bürgerinnen und Bürger. „Das finde ich nicht schlecht.“

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Auch eine Enquete-Kommission des Bundestags ist im Gespräch, dafür hatte sich unter anderem die FDP-Fraktion mit Nachdruck ausgesprochen. In CDU und CSU allerdings hegt man Zweifel am Willen der Koalitionspartner, sich vertieft mit der Corona-Zeit auseinanderzusetzen. „Seit mehr als einem Jahr warten wir auf einen abgestimmten Vorschlag der Ampel zur Aufarbeitung der Corona-Maßnahmen“, sagt Tino Sorge, gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, dieser Redaktion. Die Ampel-Koalition sei offenbar nicht in der Lage, sich zu einigen. „In der noch verbleibenden Restzeit dieser Legislaturperiode wird es deshalb immer schwerer, überhaupt noch zu brauchbaren Ergebnissen zu kommen.“

Statt Bürgerräten, denen es laut Sorge an demokratischer Legitimation fehlen würde, plädiert der CDU-Politiker für ein Bund-Länder-Gremium zur Aufarbeitung. Das könne „unter Einbeziehung von Experten nicht nur die getroffenen Maßnahmen objektiv analysieren, sondern auch Empfehlungen für künftige Pandemien erarbeiten“. Ob es in dieser Wahlperiode noch zu einer formellen Aufarbeitung der Beschlüsse der Pandemie-Politik kommen wird, ist bislang offen.