Brüssel. Kampfansage der Europäischen Union an den Kreml: Die Estin wird EU-Außenbeauftragte. Wir stellen die ungewöhnliche Politikerin vor.

Es ist die spannendste Personalentscheidung an der Spitze der Europäischen Union: Ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs am Donnerstag macht die estnische Premierministerin Kaja Kallas zur neuen EU-Außenbeauftragten. Die künftige Chefdiplomatin und Vizepräsidentin der Kommission ist eine der härtesten Putin-Gegnerinnen – der Kreml-Herrscher hat sie auf seine Fahndungsliste gesetzt, in einigen Ländern droht Kallas die Verhaftung. Die 47-jährige Baltin gilt als gradlinig und mutig, sie könnte für Kanzler Olaf Scholz und Kommissionschefin Ursula von der Leyen noch unbequem werden. Sechs Fakten über Kallas, die Sie kennen sollten:

1. Katja Kallas‘ Mutter wurde 1949 nach Sibirien deportiert

Kallas hat sich nie Illusionen über Russland gemacht. Ihre Mutter und Großmutter wurden 1949 für zehn Jahre nach Sibirien deportiert, ein Gräuel, das Sowjet-Diktator Josef Stalin an 75.000 Esten verübte. Kallas Mutter Kristi war erst sechs Monate alt, sie überlebte den Transport im Viehwagen nur, weil ein freundlicher Soldat der Großmutter Milch gab. „Meine Familiengeschichte steht stellvertretend für das, was viele Esten erlebt haben“, sagt Kallas.

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Sie wächst unter sowjetischer Besatzung auf. 1988 besucht die elfjährige Kaja mit ihren Eltern Ost-Berlin. An der Grenzabsperrung vor dem Brandenburger Tor sagt ihr Vater: „Atme tief ein. Das ist die Luft der Freiheit, die von der anderen Seite kommt.“ Ein Jahr später fällt der Eiserne Vorhang, Estland wird unabhängig. Doch die Esten trauen den Russen nicht: „Wir haben immer gewusst, dass Russland gefährlich, eine Bedrohung für uns ist“, sagt Kallas.

2. Kreml-Chef Wladimir Putin sucht Kallas mit Haftbefehl

Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seit Februar per Haftbefehl nach Kallas fahnden. Begründung: Angeblich feindselige Handlungen gegen Russland und „Schändung des historischen Gedächtnisses“ – Kallas hatte Denkmäler für Sowjetsoldaten abreißen lassen. Sie ist damit die erste westliche Top-Politikerin auf Russlands Fahndungsliste.

Der russische Präsident Wladimir Putin: Er lässt seit Februar per Haftbefehl nach Kaja Kallas fahnden.
Der russische Präsident Wladimir Putin: Er lässt seit Februar per Haftbefehl nach Kaja Kallas fahnden. © AFP | Sergei Guneyev

Einige wenige Länder kann sie als EU-Chefdiplomatin wohl nicht bereisen, ohne ihre Festnahme zu riskieren. Neben Russland dürften Belarus, Nordkorea und der Iran dazu zählen. Der Haftbefehl sei eine „Ehrenmedaille“, sagt Kallas, sie werde sich von Putin nicht einschüchtern lassen: „Putin will, dass wir Angst haben. Deshalb sollten wir keine Angst haben.“

3. EU-Chefdiplomatin stammt aus einer Politiker-Dynastie

Ihr Großvater Eduard war einer der Gründerväter der Republik Estland 1918. Der Vater Slim Kallas gründete 1994 die liberale Estnische Reformpartei, war zehn Jahre Parteichef, wurde Minister, Ministerpräsident und war ab 2004 ein Jahrzehnt EU-Kommissar. Tochter Kallas arbeitete nach dem Jura-Studium in Tartu erst als Rechtsanwältin, mit 33 Jahren startete sie ihre politische Karriere: Sie trat in die Reformpartei ihres Vaters ein, wurde ein Jahr später ins nationale Parlament gewählt. 2014 wechselte Kallas für vier Jahre als Abgeordnete ins EU-Parlament.

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    Zurück in der estnischen Politik, wurde sie Parteichefin der Liberalen, 2021 dann erste Ministerpräsidentin Estlands. Dass die EU-Regierungschefs sie jetzt nach Brüssel holen, hat neben ihrem Profil noch weitere Gründe: Als Politikerin aus Osteuropa sorgt sie für die regionale Balance an der EU-Spitze – und als Liberale repräsentiert sie eine der drei Parteienfamilien, die die Weichen für die nächsten fünf Jahre der EU-Politik stellen. Kallas kommt der Ruf wohl nicht ungelegen: Nach drei Jahren im Amt hat sie an Popularität eingebüßt. Zwei Drittel der Esten sind laut Umfragen mit ihrer Arbeit unzufrieden. Bei der Europawahl stürzte ihre Reformpartei von Platz eins auf Platz drei ab.

    4. Kaja Kallas ist eine starke Anwältin der Ukraine

    Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat sich Kallas in der EU massiv für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine und für stärkere Verteidigungsanstrengungen Europas eingesetzt. Sie schlug gemeinsame Munitionskäufe vor und setzte sich damit durch, sie plädiert auch für Gemeinschaftsschulden zur Finanzierung der Verteidigungskosten. Frieden zu russischen Bedingungen sei gleichbedeutend mit massenhaften Gräueltaten und Unterdrückung, warnt Kallas.

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    „Die Ukraine muss gewinnen, Russland muss vertrieben werden, und der russische Aggressor und die Kriegsverbrecher müssen vor Gericht gestellt werden“, fordert die Estin. Gemessen an der Wirtschaftsleistung unterstützt kein Land die Ukraine stärker als Estland mit seinen 1,4 Millionen Einwohnern. Die estnischen Verteidigungsausgaben liegen bei 3,4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, noch ein bisschen besser als die USA.  

    Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und Bundeskanzler Olaf Scholz beim EU-Gipfel. Die beiden verstehen sich gut – doch als EU-Chefdiplomatin könnte Kallas auch unbequem werden für den Bundeskanzler.
    Die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas und Bundeskanzler Olaf Scholz beim EU-Gipfel. Die beiden verstehen sich gut – doch als EU-Chefdiplomatin könnte Kallas auch unbequem werden für den Bundeskanzler. © picture alliance / Anadolu | Dursun Aydemir

    Kallas war vor diesem Hintergrund auch als Nato-Generalsekretärin im Gespräch – ein Amt, das aber an den scheidenden niederländischen Regierungschef Mark Rutte fällt, wie die Nato-Staaten am Mittwoch offiziell bestätigten. Unter EU-Diplomaten heißt es, Kallas werde nach Amtsantritt im Herbst schnell beweisen müssen, dass sie auch andere Weltregionen im Blick hat. Bei der Friedenskonferenz in der Schweiz fing sie bereits an und betonte vor Vertretern Afrikas, Südamerikas und des Nahen Ostens, Estland sei nie Kolonialmacht gewesen, im Gegenteil: „Viele Länder haben unter dem Kolonialismus gelitten, auch mein Land, das bis 1990 fast ein halbes Jahrhundert lang Teil des imperialen Russlands war.“

    5. Privat hat Kallas Ärger wegen ihres Ehemanns Arvo Hallik

    Kallas ist seit 2018 mit dem estnischen Investment-Banker Arvo Hallik verheiratet. Es ist ihre zweite Ehe, die erste wurde geschieden, als sie 28 Jahre alt war. Später war sie mit dem estnischen Ex-Finanzminister Taavi Veskimägi liiert, beide haben einen gemeinsamen Sohn. Ihr Ehemann Arvo Hallik brachte zwei Kinder mit in die Ehe. In die Schlagzeilen geriet die Ehe voriges Jahr, als bekannt wurde, dass Hallik an einem Logistikunternehmen beteiligt war, das nach dem russischen Überfall auf die Ukraine weiter Güter nach Russland lieferte. Die Aufregung in Estland war groß. Kallas versicherte, sie habe nichts von den Geschäften ihres Mannes gewusst.

    6. Scholz und von der Leyen: Mit Kallas wird es nicht nur harmonisch

    Kallas drängt die EU-Staaten, ihre jährlichen Ausgaben für Verteidigung auf drei Prozent des Bruttosozialprodukts zu erhöhen – Deutschland schafft 2024 nur mit großer Mühe zum ersten Mal das Zwei-Prozent-Ziel. Zugleich fordert die Estin, die EU-Staaten sollten 0,25 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für die militärische Unterstützung der Ukraine einsetzen. Kanzler Olaf Scholz versteht sich zwar gut mit Kallas und nennt den Finanzvorschlag „sympathisch“ – im politischen Alltag könnte es aber schnell Konflikte geben.

    Noch mehr Reibungspunkte sind mit Ursula von der Leyen zu erwarten. Die Kommissionschefin zieht außenpolitische Themen gern allein an sich, vor allem solche mit Ukraine-Bezug – den bisherigen Außenbeauftragten Josep Borrell drängte von der Leyen gekonnt ins Abseits, Ratspräsident Charles Michel ebenso. Die ehrgeizige und machtbewusste Kallas, deren Markenzeichen die Furchtlosigkeit ist, dürfte sich aber kaum so leicht die Butter vom Brot nehmen lassen.