Montargis. Wer den Aufstieg von Le Pen und ihrer Partei verstehen will, muss Orte wie Montargis besuchen, die langsam vor sich hinsterben.

Im Bistro Balto gilt an diesem verregneten Nachmittag: je trüber der Blick, desto klarer die Meinungen. „Montargis ist eine tote Stadt“, sagt der Mann mit dem Unterlippen-Piercing auf die Frage, wie es der Stadt hier am Südrand des Pariser Beckens gehe. „Früher war hier in der Rue du Général Leclerc dreimal die Woche Markt. Jetzt ist das Zentrum leer. Die Leute haben keine Arbeit, kein Geld.“ Der Wirt stimmt zu: Im Supermarkt U sehe er alte Leute, die ihre Frischprodukte nicht mehr im Kilo kauften – „sondern hier drei Tomaten, dort zwei Äpfel“.

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Montargis, 15.000 Einwohner, anderthalb Autostunden südlich von Paris gelegen, ist eine jener gesichtslosen Kleinstädte Frankreichs, die langsam vor sich hinsterben. Fabriken schließen, Läden machen Konkurs; die Ärzte ziehen weg. Im Schaufenster der Immobilienagentur Côtés Particuliers sind Einfamilienhäuser für weniger als 100.000 Euro zu haben. Dieses schleichende Phänomen hat der bekannte Geograf Christophe Guilluy das „periphere Frankreich“ genannt. Das wirkliche, das echte Frankreich ist nicht der Eiffelturm, sondern Montargis.

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Einmal in letzter Zeit hat das verlorene Städtchen Schlagzeilen gemacht: In der Nacht auf den 1. Juli 2023 brach die Gewalt wie ein Blitzschlag über Montargis herein. Jugendliche aus dem Einwandererviertel fielen in das Zentrum ein und verwüsteten es stundenlang, systematisch. Wie in ganz Frankreich reagierten sie auf den Tod des von einem Polizisten erschossenen Autofahrers Nahel in Paris.

Montargis: Viele Bewohner wechselten von Sarkozys in Le Pens Lager

Am Tag danach war der Spuk in Montargis vorbei. Einzelne Geschäfte der Einkaufsstraße Rue Dorée bleiben aber noch heute von Holzbrettern abgedeckt. An der Stelle der abgebrannten Apotheke klafft eine Baulücke. Eine redselige Passantin mit künstlichem Haar und Schirm erzählt von sich, sie habe am Morgen danach gesehen, wie der Apotheker verloren in der Brandruine gestanden sei und geweint habe. Inzwischen habe er Montargis verlassen, wie auch der Schokoladeverkäufer und der Schuhmacher.

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Der Coiffeur-Laden im Stadtzentrum hält noch die Stellung. Mireille, die Besitzerin, erzählt, wie die „jeunes“ – eine Chiffre für Einwandererjugendliche – das Schaufenster ihres Geschäftes mit einem Auto gerammt hätten, um dann einen Molotow-Cocktail ins Innere zu schmeißen. Ihr Laden ist heute renoviert. Und „RN-Gelände“, wie Mireille freimütig erklärt. Das Kürzel steht für „Rassemblement National“, die Partei von Marine Le Pen. Der Kunde auf dem Coiffeur-Sessel, ein junger Maler, schaltet sich ein: „Wir, die Franzosen, die Weißen, schlagen nicht alles kurz und klein. Wo es Probleme gibt, sind doch immer Araber dabei.“ Er hebt einen Zeigefinger, an dem Farbe klebt: „Und das ist jetzt nicht rassistisch.“ Vom Wartestuhl aus stimmt eine weißhaarige Frau zu: „Natürlich nicht!“

Thomas Ménagé gehört zur Partei rund um die Rechtspopulistin Marine Le Pen. „Haben Sie keine Angst“, versichert er, „der Machtwechsel wird ruhig vonstattengehen“.  
Thomas Ménagé gehört zur Partei rund um die Rechtspopulistin Marine Le Pen. „Haben Sie keine Angst“, versichert er, „der Machtwechsel wird ruhig vonstattengehen“.   © Stefan Brändle | Stefan Brändle

Am Abend lädt der Lokalkandidat des RN, Thomas Ménagé zu einem Wahltermin im Dorf Courtenay, wie Montargis im vierten Wahlkreis des Departementes Loiret gelegen. Der 32-jährige Immobilienjurist war einst dem konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy gefolgt, bevor er ins Lager von Le Pen überlief. Wie so viele hier in Montargis. Ménagé war schon 2022 mit diskussionslosen 63 Prozent der Stimmen in die Nationalversammlung gewählt worden. Am Sonntag will er das Wahlresultat noch übertreffen.

„Wenn wir die Regierung stellen, werden wir einige Sofortmaßnahmen durchwinken, zum Beispiel Mindeststrafen für gewisse Delikte“, sagt er. Die großen Wahlthemen „wie die Rücknahme von Macrons brutaler Rentenreform oder die Einschränkung des Schengenraumes vertagen wir auf den Herbst“, damit die Wende nicht zu abrupt ausfalle. „Haben Sie keine Angst“, versichert er, „der Machtwechsel wird ruhig vonstattengehen“.

„Das Problem ist, dass man in Montargis neben-, nicht miteinander lebt“

Nicht alle freuen sich in Montargis auf den angekündigten RN-Sieg. In der Bäckerei gegenüber dem Bistro Balto bedauert eine freundliche Frau, dass die Stadt wie zweigeteilt sei. Die „jeunes“, die hier vor allem türkischer und senegalesischer Herkunft seien, sehe man unter der Woche nie, da sie anderswo zur Schule gingen oder arbeiteten. Nur am Samstagnachmittag kämen sie in Gruppen, um in den Handy- und Kleiderläden zu shoppen. „Die übrigen Einwohner schauen sie scheel an“, sagt die Frau. „Das Problem von Montargis ist, dass man hier neben-, nicht miteinander lebt.“

Mélusine Harlé ist die Kandidatin des Macron-Lagers. Sie kämpft auf scheinbar verlorenem Posten.
Mélusine Harlé ist die Kandidatin des Macron-Lagers. Sie kämpft auf scheinbar verlorenem Posten. © privat | Privat

Diesen Umstand bedauert auch Mélusine Harlé, die 51-jährige Kandidatin des Macron-Lagers, die als Genossenschaftsdirektorin in Paris arbeitet und am Telefon ausführt: „Das Mittelager von Emmanuel Macron könnte die einzelnen Bevölkerungsgruppen hier sicherlich am besten aussöhnen. Die extreme Rechte und die extreme Linke führen dagegen Hassreden auf die Ausländer und die Reichen.“ Doch Macron stößt auf Ablehnung. Hat Harlé Wahlchancen gegen den RN-Kandidaten? Es ist zu bezweifeln: Hier im Bistro Balto kennt man nicht einmal ihren Namen.

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Ein paar Schritte hinter dem Balto in der Rue du Général Leclerc ist das städtische Gericht. Amtsschreiber Bruno Nottin, ein Arbeitersohn und Kommunist, kandidiert für die „Neue Linksfront“. „Machen wir uns nichts vor, hier herrscht die Rechte“, sagt er. Nottin ist sich sicher sei, „dass es gegen eine RN-Regierung politischen Widerstand gäbe“. Denn das französische Volk würde nie zulassen, „dass das RN zwischen Religionen oder Hautfarben zu unterscheiden beginnt“. Das, so sagt er, „wäre nicht mehr Frankreich“.