London. Labour-Chef Keir Starmer dürfte Rishi Sunak als Regierungschef Großbritanniens ablösen. Er gilt als blass, dafür aber kompetent.

Wenn Keir Starmer versucht, Witze zu machen, sieht das manchmal etwas unbeholfen aus. Im Wahlkampf, irgendwo in der Grafschaft Northamptonshire, stand der Labour-Chef einmal inmitten einer Gruppe von Schülern und mühte sich mit einer Anekdote ab. „Sie wird euch gefallen“, begann Starmer zuversichtlich. Es folgte eine langfädige Erzählung von seinem Besuch im Buckingham-Palast vor etlichen Jahren, als er zum Ritter geschlagen wurde – der Witz war offenbar, dass seine Eltern ihren Hund mitbrachten, der laut gebellt haben soll. Die Schüler hörten mit ernsten Gesichtern zu, traten ungeduldig von einem Bein aufs andere, einer gähnte.

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Es ist ein recht typischer Auftritt für den Mann, der Großbritanniens neuer Premierminister werden dürfte. Der 61-jährige Starmer ist kein Alleinunterhalter, der das Publikum fesseln kann. Er ist etwas steif im Umgang, seine rhetorische Begabung ist mittelmäßig. Seine Anhänger sagen, das sei ein Vorteil. Dass Starmer „langweilig“ ist, sei zu begrüßen, schrieb das Magazin „Prospect“ vor einigen Wochen – in den vergangenen Jahren habe es in Westminster etwas „zu viel Drama, Aufregung und Chaos gegeben“, da sei etwas Nüchternheit gar nicht so verkehrt. 

Viele Wählerinnen und Wähler sehen es offenbar ähnlich. Starmers Labour-Partei ist die haushohe Favoritin in den Unterhauswahlen am 4. Juli. Wenn die Meinungsumfragen nicht total falsch liegen, wird Starmer danach in die Downing Street 10, den Sitz des britischen Premierministers, einziehen.

Keir Starmers steile Karriere vom Juristen zum Politiker

Geboren 1962 im Londoner Bezirk Southwark, wuchs Starmer in einem Vorort südlich der Hauptstadt auf. Seine Mutter war Krankenschwester, der Vater Werkzeugmacher. Beide waren Labour-Anhänger, und auch das Herz des jungen Keir schlug links. Mit 16 Jahren trat er der Parteiorganisation Labour Party Young Socialists bei, bald machte er sich einen Namen als linker Heißsporn. Ein damaliger Freund erzählte, dass Starmer und einige seiner Mitstreiter sich einmal extra für einen Volkslauf einschreiben ließen, damit sie den Tory-Abgeordneten Geoffrey Howe, der ebenfalls teilnahm, öffentlich beschimpfen konnten. 

2008 wurde Keir Starmer zum Director of Public Prosecutions ernannt, dem obersten Staatsanwalt Großbritanniens.
2008 wurde Keir Starmer zum Director of Public Prosecutions ernannt, dem obersten Staatsanwalt Großbritanniens. © AFP | John Stillwell

Nach seinem Rechtsstudium in Leeds und Oxford begann er Ende der 1980er-Jahre seine Karriere als Anwalt. Starmer verteidigte Greenpeace-Aktivisten gegen McDonald’s, untersuchte Vorwürfe der Polizeibrutalität in Nordirland und setzte sich für Mitglieder der Irisch-Republikanischen Armee ein, die von britischen Gefängniswärtern misshandelt worden waren. 2001 wurde er zum Menschenrechtsanwalt des Jahres gekürt.  

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Seine Karriere nahm einen großen Schritt nach vorne, als er 2008 zum Director of Public Prosecutions ernannt wurde, dem obersten Staatsanwalt Großbritanniens. Es ist ein prestigeträchtiger Posten im britischen Staatsgefüge – und Starmers linke Instinkte traten zunehmend in den Hintergrund. Als Dankeschön für seine Arbeit wurde er nach seinem Abtritt als Staatsanwalt 2014 zum Ritter geschlagen, er ist seither ein „Knight Commander of the Order of the Bath“ und wird als „Sir“ angesprochen. 

„Zweigesichtiger Starmer“: Kritiker werfen Keir immer wieder Wortbruch vor

Wenig später wagte Starmer den Schritt in die Politik. 2015 wurde er als Labour-Abgeordneter ins Unterhaus gewählt – und hatte schon ein Jahr später einen überaus einflussreichen Job: Parteichef Jeremy Corbyn machte ihn zum Brexit-Verantwortlichen im Schattenkabinett. 

Als die Partei in den folgenden Jahren hoffnungslos in Brexit-Streitereien versank, tat sich Starmer als einer der glühendsten Fürsprecher eines zweiten Referendums hervor. Beim EU-freundlichen Flügel der Partei, wie auch bei vielen liberalen Zeitungskommentatoren, fand er damit viel Zuspruch. Manche sahen ihn bereits als künftigen Parteichef

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Seine Stunde kam bald. Die Corbyn-Jahre endeten im Dezember 2019 mit einem erniedrigenden Wahldebakel, wenige Monate später wurde Starmer zum Labour-Chef gewählt. Er hatte während seiner Kampagne versprochen, das linke Programm seines Vorgängers beizubehalten, von der Vergesellschaftung der Energie- und Wasserversorgung über Investitionen in den grünen Umbau der Wirtschaft bis zu Steuererhöhungen für Reiche.

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Aber es dauerte nicht lange, da warf er ein Versprechen nach dem anderen über Bord. Die Parteilinke wurde an den Rand gedrängt, Corbyn aus der Fraktion ausgeschlossen, und Starmer signalisierte der Geschäftswelt, dass sie keine radikale Wirtschaftspolitik zu befürchten habe. Auch über den Brexit sprach er kaum noch – und wenn, dann bestand er darauf, dass die Sache erledigt sei, den Streit von Neuem anzufangen, darauf hatte er keine Lust.

Die Downing Street 10 ist der Sitz des britischen Premierministers.
Die Downing Street 10 ist der Sitz des britischen Premierministers. © DPA Images | Frank Augstein

Er selbst sagt, der Schwenk in die Mitte sei nötig, um in die Downing Street 10 einziehen zu können. „Zu gewinnen ist meine erste Priorität“, hat er immer wieder betont. Aber für seine Kritiker zeugt es von einer tiefen Unehrlichkeit – sie nennen ihn „zweigesichtigen Starmer“. Während des Wahlkampfs wurde Starmer immer wieder mit dem Vorwurf des Wortbruchs konfrontiert. „Ihre kurze politische Karriere ist ein Katalog der gebrochenen Versprechen und geänderten Positionen“, sagte eine Interviewerin vor einigen Wochen. „Wie können die Wähler irgendetwas glauben, was Sie sagen?“ Seinen Wahlchancen hat solche Kritik nicht geschadet. Aber wenn Starmer wie erwartet bald Premierminister wird, dann wird er dem Land zeigen müssen, dass ihr Vertrauen nicht deplatziert war.

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