Berlin. Der verhasste iranische Präsident Raisi verunglückte im Mai tödlich. Nun soll ein Nachfolger gewählt werden. Bringt das die Wende?

Sie nannten ihn den „Schlächter von Teheran“: Als Ebrahim Raisi, Präsident der Islamischen Republik, vor gut einem Monat bei einem Helikopter-Absturz tödlich verunglückte, feierten viele Menschen im Iran mit einem Feuerwerk und bösen Sprüchen. An diesem Freitag soll ein neuer Präsident gewählt werden. Ein Blick ins Land, in dem seit dem Tod von Jina Mahsa Amini im Herbst 2022 die Menschen trotz Gefahr für Leib und Leben gegen das islamische Herrschaftssystem auf die Straße gehen.

Wie ist die Stimmung kurz vor der Wahl?

Laut Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal sind immer mehr Iraner nicht bereit, diesem System eine Stimme zu geben. Sie berichtet von Graffitis und Parolen auf den Straßen Teherans mit der Aufschrift: „Wir wählen nicht“.

Die Stimmung zeige, dass das iranische Volk sich zum größten Teil nicht an den Scheinwahlen beteiligen werde, sagte Tekkal dieser Redaktion und verwies auf die unkonkrete Wahlwerbung, die einen starken Staat verspreche, eine verbesserte Wirtschaftslage oder schlicht auch Fortschritt.

Für den Großteil der Bevölkerung, die angesichts der dramatischen Inflation von bis zu 80 Prozent, Arbeitslosigkeit, Korruption und Repression nur noch Hoffnungslosigkeit verspürt, wohl kaum eine angemessene Antwort auf die drängendsten Fragen.

Setzt sich für die Freiheitsrechte der Frauen im Iran ein: Menschenrechtsaktivistin und Autorin Düzen Tekkal.
Setzt sich für die Freiheitsrechte der Frauen im Iran ein: Menschenrechtsaktivistin und Autorin Düzen Tekkal. © dpa | Bernd von Jutrczenka

Warum war Raisi in der iranischen Gesellschaft so verhasst?

Raisi war in den 1980er Jahren stellvertretender Generalstaatsanwalt und damit für Hinrichtungen tausender politischer Gefangener verantwortlich. Die Jahre seiner Präsidentschaft sind zudem geprägt von einer beispiellosen Repression, die Zahl der Hinrichtungen ist im vergangenen Jahr auf 853 gestiegen.

„Deswegen hat sich die Mehrheit der Iraner über seinen Tod gefreut“, sagt die im Pariser Exil lebende iranische Politikerin Maryam Rajavi unserer Redaktion. Rajavi ist der Kopf des Nationalen Widerstandsrates im Iran (NWRI). Der Bundesnachrichtendienst bezeichnet den NRWI als Vorfeldorganisation der Volksmodschahedin. Diese Organisation wurde von der EU zwischen 2001 und 2009 als Terrororganisation gelistet.

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Wie aktiv ist die Opposition?

Die Opposition ist in vielen Bereichen aktiv: Regelmäßig legten Arbeiterinnen und Arbeiter das Land lahm, berichtet Düzen Tekkal von ihren Kontakten. Der Mut der Frauen sei ungebrochen: „Sie stellen weiterhin die Speerspitze des Widerstandes dar“, sagt die Politikberaterin. Kaum noch eine Frau sei bereit, den Hidschāb – das vorgeschriebene Kopftuch – ordnungsgemäß zu tragen.

Damit riskieren sie viel: Immer wieder berichten iranische Frauen in den sozialen Netzwerken und auch gegenüber dieser Zeitung, dass sie beim Fahren ohne Kopftuch aus dem Auto gezerrt worden seien oder auf dem Weg zur Arbeit oder Universität von Sittenwächtern auf die Wache gebracht und inhaftiert worden seien.

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Wie ist die Situation in den Gefängnissen?

Sie seien total überfüllt, sagt Mariam Claren, Tochter der im berüchtigten Evin-Gefängnis einsitzenden Deutschen Nahid Taghavi, unserer Redaktion. „Besonders junge Frauen, die sich weigern, sich an die strenge Kleiderordnung zu halten, werden dieser Tage in das Evin-Gefängnis verschleppt“, so Claren.

Ihrer Mutter, eine 70-jährige Architektin mit iranischen Wurzeln, wird vorgeworfen, eine illegale Gruppe geleitet zu haben. Sie wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt. Ihr gehe es nach zwei Jahren im Gefängnis sehr schlecht, sagt ihre Tochter.

Sie habe starke Rücken- und Schulterschmerzen, müsse Kortison nehmen, was ihr Immunsystem schwäche. „Ihr Platz ist hier zu Hause in Deutschland, nicht das berüchtigte Evin-Gefängnis.“

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Könnte sich ein reformbereiter Kandidat durchsetzen und für Entspannung sorgen?

Massud Peseschkian ist der einzige Kandidat, der als Reformer gilt. Mit Sprüchen wie „Ich verspreche euch, das Volk nie anzulügen“, versucht der 69-jährige Arzt, die Hoffnung einer enttäuschten Wählergeneration zu wecken. Peseschkian kritisiert die Kopftuchpflicht und verspricht mit Bezug auf die brutalen Sittenwächter, er werde stoppen, was seinen Töchtern und Schwestern widerfahre.

Dass Peseschkian überhaupt vom Wächterrat neben den fünf konservativen Kandidaten zugelassen wurde, dient für Beobachter allerdings allein dem Zweck, die Wahlbereitschaft zu erhöhen – um so das System zu stabilisieren. Obendrein ist auch Peseschkian kein Systemsprenger, schließlich war er schon in einer früheren Regierung Gesundheitsminister und stützt die Revolutionsgarden.

Außerdem wird er ohne die Stimmen der Systemtreuen kaum die Wahl gewinnen. Allzu weit kann er sich also nicht mit Wahlversprechen aus dem Fenster lehnen. Abgesehen davon stehen ihm gleich fünf erzkonservative Politiker und loyale Anhänger gegenüber, darunter der amtierende Parlamentspräsident Mohammed Bagher Ghalibaf (62), ein ausgewiesener Opportunist und Machtpolitiker, dem die größten Chancen zugerechnet werden. Oder Said Dschalili (58), ein Hardliner, der noch radikalere Positionen als Ghalibaf vertritt.

Auf den Plakaten sind die sechs Präsidentschaftskandidaten zu sehen.
Auf den Plakaten sind die sechs Präsidentschaftskandidaten zu sehen. © AFP | ATTA KENARE

Wie gehen Deutschland und der Westen mit dem Iran um?

Ende Mai forderte die Bundesregierung zusammen mit anderen EU-Ländern, die islamische Revolutionsgarde auf die Terrorliste setzen zu lassen. Außerdem hat Deutschland zusammen mit Island eine UN-Kommission einberufen, die die Niederschlagung der Frau-Leben-Freiheit-Proteste untersucht.

Dennoch sei deutlich Luft nach oben, sagt Düzen Tekkal. „Die aggressive regionale Politik des Regimes, die Vernichtungsfantasien gegenüber Israel, die atomare Bedrohung etc. werden, so macht es den Eindruck, vom Westen stillschweigend hingenommen.“

Maryam Rajavi wirft dem Westen vor, mit anhaltender Beschwichtigungspolitik das instabile System künstlich am Leben zu halten. Für Mariam Claren tut die Bundesregierung viel zu wenig, um ihre Mutter aus dem Gefängnis zu holen.

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Andere Länder wie Belgien, Frankreich, die USA oder Dänemark seien erfolgreiche bei der Befreiung ihrer Bürger aus iranischer Geiselhaft. Claren: „Am Ende des Tages wird sich die Bundesregierung an ihren Erfolgen messen lassen, und wenn wir uns diese anschauen, sehen wir, dass es keine gibt.“