Berlin. Das Kräfteverhältnis zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern verschiebt sich – und das ist erst der Anfang. Für Chefs ein Kulturschock.

Deutschland kann aufatmen: Der Tarifkonflikt zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführer-Gewerkschaft GDL, der die gesamte Republik über Monate in Wallung brachte, ist beigelegt. Die Lokführer haben viel für sich herausgeholt. Sie bekommen die geforderte Reduzierung der Arbeitszeit auf 35 Stunden – aber erst in einigen Jahren und auch nur dann, wenn jeder einzelne Beschäftigte das wirklich für sich will. Dabei ist die Zeit der wiederkehrenden Streiks bei der Bahn erst einmal vorbei.

Das ist gut für Reisende und Pendler sowie für Unternehmen, die auf den Gütertransport der Bahn angewiesen sind. Auch jetzt zum Osterfest wird es keine weiteren Einschränkungen geben. Dieser Tarifkonflikt ist vonseiten der GDL und ihres scheidenden Vorsitzenden Claus Weselsky außergewöhnlich entschlossen geführt worden. Ihnen kam der besondere Umstand zugute, dass die kleine Berufsgruppe der Lokführer in der Lage ist, einen Großteil des Verkehrs in Deutschland lahmzulegen und so maximalen Druck aufzubauen.

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Doch auch anderswo kämpfen die Gewerkschaften mit harten Bandagen um mehr Geld und bessere Arbeitsbedingungen, zurzeit etwa in der Luftfahrt-Branche, im Nahverkehr und im Handel. In den beiden wichtigsten Branchen, dem öffentlichen Dienst und der Metallindustrie, ging es in den zwei zurückliegenden Jahren ebenfalls robust zur Sache. Angesichts schnell steigender Lebenshaltungskosten und einer zunehmenden Arbeitsverdichtung ist in nahezu allen Belegschaften der Unmut groß.

Arbeitsmarkt: Schon jetzt fehlt es an Fachkräften und Helfern aller Art

In den vergangenen Jahrzehnten waren Ausstände in Deutschland sehr selten. Das hat sich inzwischen geändert. Häufigere Streiks und Warnstreiks sind nicht nur ein Indiz dafür, dass die Verteilungskämpfe härter geworden sind. Da die Gewerkschaften derzeit reihenweise sehr ordentliche Tarifabschlüsse durchsetzen, liegt auch der Gedanke nahe, dass sich das Kräfteverhältnis zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu verschieben beginnt. Und zwar in Richtung der Beschäftigten.

Thorsten Knuf ist Politik-Korrespondent in der FUNKE Zentralredaktion.
Thorsten Knuf ist Politik-Korrespondent in der FUNKE Zentralredaktion. © Funke Foto Services | Reto Klar

Das Hauptproblem vieler Unternehmen sind heute nicht mehr vergleichsweise hohe Löhne und Abgaben, sondern der Mangel an Personal. Es fehlt an Fachkräften aller Art und selbst an Helfern, die einfache Tätigkeiten übernehmen. Und der Mangel an Arbeitskräften wird sich in den kommenden Jahren noch einmal dramatisch verschärften, weil sich die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer nach und nach in den Ruhestand verabschieden.

Selbst jetzt, wo die Wirtschaft hierzulande im besten Fall stagniert, erweist sich der Arbeitsmarkt als robust. Zwei, drei Generationen von Menschen in diesem Land sind in dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die Massenarbeitslosigkeit die größte Geißel der Gesellschaft ist. Das Problem der Zukunft wird der Arbeitskräftemangel sein. Das, was jedermann im Alltag heute schon spüren und sehen kann, ist erst der Anfang.

Tarifkonflikte: Wenn der Chef nicht mehr mit Job-Abbau drohen kann

In dieser Situation wächst zwangsläufig die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer und ihrer Gewerkschaften. Wenn Unternehmen nicht mehr mit Personalabbau drohen können, weil sie ja händeringend Personal suchen, schwächt das ihre Position. Wenn sie überhaupt eine Chance im Wettbewerb um die wenigen Fachkräfte haben wollen, müssen sie attraktive Löhne und Arbeitsbedingungen bieten.

Schon jetzt können sogar Beschäftigte, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind und in Betrieben ohne Tarifbindung arbeiten, ihre neue Macht ausnutzen: Wer etwa als IT-Spezialist, Busfahrerin oder Pflegekraft weiß, dass es überall freie Stellen gibt, der kann sich den besten Arbeitgeber aussuchen. Für viele Chefs mag das ein Kulturschock sein und für viele Arbeitnehmer gewöhnungsbedürftig. Aber das ist die neue Realität.