Madrid. In den ersten Monaten des Jahres starben so viele Flüchtlinge wie noch nie auf dem Weg zu den Kanaren. 19.000 haben ihr Ziel erreicht.

Es sollte eine Reise in eine bessere Zukunft werden. Doch für viele wurde es eine Reise in den Tod: Etwa 120 Menschen saßen in dem Holzkahn, der in der mauretanischen Hafenstadt Nouakchott ablegte. Das Schiff nahm Kurs auf die zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln, die rund 1100 Kilometer entfernt im Atlantik vor der westafrikanischen Küste liegen. Eine Woche dauert die Überfahrt, wenn alles gut geht. Doch immer öfter geht es nicht gut. 

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Irgendwann, noch weit vom Ziel entfernt, versagte der Motor und das Boot trieb manövrierunfähig im Atlantik. Die Bootsinsassen sahen in der Ferne Handelsschiffe vorüberfahren. Sie winkten, sie schrien um Hilfe – vergeblich. Erst zehn Tage nach dem Motorausfall wurde die Nussschale von einem Rettungsschiff 200 Kilometer südlich der Kanareninsel El Hierro entdeckt.

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Als die spanischen Seenotretter eintrafen, bargen sie 70 Überlebende. Etwa 50 weitere afrikanische Migranten – darunter mehrere Kinder – waren während der Odyssee an Hunger, Durst oder Erschöpfung gestorben. Helfer berichteten von erschütternden Szenen: Die Geretteten seien am Ende ihrer Kräfte gewesen. Viele hätten geweint, weil sie auf der Irrfahrt Familienangehörige verloren hatten.

Flüchtling aus Kamerun berichtet über Flucht nach Europa

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    „Die Atlantikroute ist die gefährlichste und tödlichste Richtung Spanien“

    Nahezu täglich spielen sich vor den Kanaren solche Tragödien ab. Seit Anfang des Jahres sollen Tausende von Menschen ertrunken sein, schätzt die angesehene spanische Hilfsorganisation Caminando Fronteras (Auf Deutsch: Grenzen überschreitend). Am Notruftelefon der Organisation melden sich in Seenot geratene Migranten, die um Hilfe bitten. Oder auch deren Familienangehörige, die mitteilen, dass ein Flüchtlingsboot abgefahren, aber nicht angekommen ist.  

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    „Die Atlantikroute ist die gefährlichste und tödlichste Richtung Spanien”, schreibt die Hilfsvereinigung in ihrem neusten Bericht. Von Januar bis Mai seien dort 4808 Personen umgekommen – so viele wie noch nie. Davon seien 3600 von Mauretanien aus in See gestochen, 959 vom unterhalb liegenden Senegal und 249 von Marokko oder der marokkanisch besetzten Westsahara. Zudem registrierte die Organisation seit Januar 246 Todesopfer auf der Mittelmeerroute Richtung Spanien. 

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    Die Behörden halten diese Zahlen für glaubwürdig. Der Statthalter der spanischen Regierung auf den Kanaren, Anselmo Pestana, sagte: Schon seit vielen Jahren gehe man davon aus, dass etwa 20 Prozent der afrikanischen Migranten bei dem Versuch umkommen, Gran Canaria, Teneriffa oder El Hierro zu erreichen. Das Risiko sei sogar noch gewachsen, weil immer mehr seeuntüchtige Boote zum Einsatz kämen. 

    Politische Instabilität in Mali, Burkina Faso, Niger und Guinea verschärfen die Situation

    Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerkes Unhcr sind seit Jahresbeginn bereits mehr als 24.000 Menschen per Boot in Spanien angekommen – ein Anstieg von 140 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Davon wurden über 19.000 Bootsmigranten auf den Kanarischen Inseln registriert. Mit dieser Zunahme ist Spanien auf dem Weg, Italien mit seinem Flüchtlingshotspot Lampedusa abzulösen. In Italien wurden bisher laut Unhcr seit Januar 23.000 Ankünfte registriert, in Griechenland waren es 18.500.

    Es sieht derzeit nicht danach aus, dass die Zahl der auf den Kanaren ankommenden Migranten abnehmen wird. Spaniens Innenministerium schätzt, dass in Mauretanien 300.000 Flüchtlinge aus dem benachbarten Krisenstaat Mali darauf warten, in ein Boot Richtung Europa klettern zu können. „Der Druck besteht weiterhin, weil wir in Mali einen Krieg haben und wegen der gesamten politischen Instabilität in der Region”, heißt es. In letzter Zeit gab es zum Beispiel Staatsstreiche in Mali, Burkina Faso, Niger oder Guinea.

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    Bereits im vergangenen Jahr registrierten die Kanaren einen traurigen Rekord: In 2023 kamen 40.000 Flüchtlinge und Migranten per Boot an. In 2024 könnten es über 80.000 werden, so die interne Schätzung der Regierung. Die Hochsaison der Menschenschlepper habe noch nicht einmal begonnen, sagen die Experten. Von September bis November gebe es üblicherweise weniger Wind und Wellen auf der Atlantikroute, dann könnte sich die Zahl der ankommenden Migrantenboote noch vervielfachen.  

    Aber auch jene, die nach tagelanger Überfahrt den europäischen Boden schon in greifbarer Nähe haben, schaffen es nicht immer bis an die rettende Küste. So wie die Insassen eines Migrantenkahns, dessen Wrack dieser Tage vor der Kanareninsel El Hierro geborgen wurde. Einer der etwa 60 Migranten an Bord hatte plötzlich „Land in Sicht!” gerufen. Daraufhin seien einige jubelnd aufgesprungen, das Boot geriet aus dem Gleichgewicht und kenterte: Nur neun Menschen überlebten das Unglück.