Berlin. Auf dem Feld der Gruß der Grauen Wölfe, von Fans „Ausländer raus“-Rufe: Zwei Eklats bei der EM zeigen die dunkle Seite des Turniers.

Experten sagen: Länderturniere wie die EM bieten Rechtsextremen eine Bühne.
Experten sagen: Länderturniere wie die EM bieten Rechtsextremen eine Bühne. © FUNKE Foto Services | Reto Klar

Merih Demiral achtet darauf, dass jeder ihn sehen kann. Es ist Dienstagabend in Leipzig, es läuft die 60. Minute im Spiel Türkei-Österreich, und Demiral hat für die türkische Nationalmannschaft das zweite Tor geschossen. Und dann, so zeigen es Aufnahmen von dem Spiel, gleitet sein Blick über die Ränge im Stadion. Plötzlich reißt der 26-Jährige beide Arme nach oben. Mit jeder Hand formt er ein Zeichen: Mittel- und Ringfinger legt er an den Daumen, kleinen Finger und den Zeigefinger streckt er dabei aus. 

Es ist der „Wolfsgruß“, das Markenzeichen der nationalistischen und rechtsextremen „Ülkücü“-Bewegung, die in Deutschland als Graue Wölfe bekannt ist. Die Bewegung, die hier rund 12.000 Anhänger hat, wird vom Verfassungsschutz beobachtet, in Österreich ist die Geste bereits verboten. Jetzt ermittelt die UEFA wegen „mutmaßlich unangemessenen Verhalten“, dem Spieler droht eine Sperre. Die Geste war nicht der einzige Skandal rund um dieses Spiel: Schon vor Anpfiff hatten österreichische Fans für Empörung gesorgt, weil sie zu Gigi D’Agostinos Song „L’amour toujours“ „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“ skandiert hatten.

Hintergrund des faschistischen Handzeichens: Das steckt hinter dem „Wolfsgruß“

Auf dem Platz, unter den Fans: Die Vorfälle werfen erneut ein Schlaglicht auf das Verhältnis von Fußball und Rechtsextremismus, und die Frage, wo Begeisterung für das eigene Land und die eigene Mannschaft aufhören – und gefährlicher Nationalismus beginnt.

Umstrittener Jubel in Leipzig: Merih Demiral von der Türkei nach seinem Tor.
Umstrittener Jubel in Leipzig: Merih Demiral von der Türkei nach seinem Tor. © DPA Images | Sebastian Christoph Gollnow

Innenministerin Faeser nennt Demirals Verhalten „inakzeptabel“

Aus der Politik wird am Tag danach vor allem Demirals Geste scharf kritisiert. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) sagt: „Die Symbole türkischer Rechtsextremisten haben in unseren Stadien nichts zu suchen. Die Fußball-Europameisterschaft als Plattform für Rassismus zu nutzen, ist völlig inakzeptabel.“ Sie fordert Konsequenzen von der UEFA. Auch aus der Türkei kam Kritik – allerdings nicht an Demiral, sondern an der UEFA. Der türkische Justizminister Yilmaz Tunc nannte deren Entscheidung „böswillig“ und „zielgerichtet gegen die Türkei“.

Der türkische Nationalspieler zeigte das Zeichen der Organisation am 31. Jahrestag des Massakers von Sivas, wo im Juli 1993 Teilnehmer eines alevitischen Festivals von einer religiös aufgepeitschten Menge angegriffen wurden. 35 Menschen kamen ums Leben.

Auch die CDU-nahe Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal verurteilt das Zeigen des Grußes scharf. „Seit Jahren bekomme ich von Anhängern der Grauen Wölfe, einer der größten rechtsextremen Gruppen in Deutschland, Morddrohungen. Dass Merih Demiral hier den rechtsextremen Wolfsgruß zeigt, ist eine Verhöhnung der Opfer“, schrieb Tekkal bei X.

Länderturniere wie die EM bieten Rechtsextremen eine Bühne

Turniere wie die Europameisterschaft erreichen ein deutlich größeres Publikum als der Vereinsfußball, nicht nur in den teilnehmenden Nationen. „Sicherlich forciert der Umstand, dass jetzt Länder gegeneinander spielen, identitäre Strukturen“, sagt Jürgen Mittag von der Deutschen Sporthochschule in Köln. In der Bundesliga würde eben selten die Deutschlandfahne, sondern das Vereinslogo gezeigt.

Hat der Fußball also ein Problem mit Rechtsextremismus, das hier nur sichtbar wird? Nein, sagt Özgür Özvatan, Soziologe an der Humboldt-Universität in Berlin, jedenfalls kein größeres als die Gesellschaft insgesamt. Aber der Sport euphorisiere, schaffe kollektive Identitäten und emotionale Ereignisse. In dieser Kombination, sagt Özvatan, biete er eine gute Bühne für rechtsextreme Akteure, die die große Aufmerksamkeit bei Turnieren wie der EM nutzen wollen, um für ihre Zwecke zu mobilisieren.

Den entspannten Patriotismus, von dem seit der Weltmeisterschaft 2006 immer wieder die Rede war, gebe es in dieser Form nicht, sagt Özvatan. „Der erhoffte Effekt, dass es eine liberale, zivile, pro-demokratische Form von Patriotismus gibt, die der Fußball produzieren kann, hat sich nicht eingestellt“, erklärt der Forscher. Er wünscht sich mehr Sensibilität für das Thema auch von politischer Seite. So müsse man etwa hinterfragen, was es bedeutet, wenn der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck öffentlich argumentiert, es sei unpatriotisch, dass Adidas nicht mehr Ausstatter der Nationalmannschaft ist. „Erzeugt das, was es erzeugen soll, nämlich liberal-demokratischen Patriotismus? Oder vielleicht doch das Gegenteil?“, fragt Özvatan.

International und in Deutschland werden nationalistische Einstellungen gefährlicher

Wilhelm Heitmeyer, der am Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Uni Bielefeld forscht, geht noch einen Schritt weiter. „Die Idee vom entspannten Patriotismus des Sommermärchens war schon damals ein öffentlicher Selbstbetrug“, sagt er. Schon damals hätte eine Nachuntersuchung eine Zunahme von Nationalismus gezeigt, der einhergehe mit Überlegenheitsgefühlen und Abwertung der anderen. „Jetzt sind die wachsenden nationalistischen und autoritären Einstellungen und Bewegungen international und auch in Deutschland noch gefährlicher geworden“, sagt er.

'Hauptstadt Inside von Jörg Quoos, Chefredakteur der FUNKE Zentralredaktion

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Diesem internationalen Trend während eines Turniers entgegenzuwirken, sei sehr schwierig, sagt Heitmeyer. Selbst als Beobachter einzuschreiten, wenn, wie im Fall der Österreicher, andere Fans rassistische Gesänge skandieren, sei nicht einfach, sagt der Soziologe. „Wo man sofort eingreifen sollte, ist, wenn so etwas im eigenen sozialen Umfeld passiert“, sagt Heitmeyer. „Unter Freunden, auf der Arbeit, im Sportverein. Da werden solche Positionen normalisiert, wenn niemand einschreitet.“

Demiral selbst gibt sich uneinsichtig. „Ich hoffe, ich werde noch mehr Gelegenheiten haben, diese Geste zu machen“, sagt er. Und beteuert: Eine versteckte Botschaft gebe es nicht.